Vom Sterben der Gletscher
Erstmals haben Wissenschaftler:innen den Eisverlust der Gletscher in den gesamten Alpen untersucht. Das Ergebnis ist erschreckend. Besonders die Schweizer Gletscher schmelzen rapide: Sie haben seit 2001 rund 36 Prozent ihres Volumens verloren. Dies zeigt einmal mehr eindringlich, dass wir im Kampf gegen die Klimaerhitzung keine Zeit mehr verlieren dürfen.
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Energiewende in den Gemeinden, Hitzesommer, Klima & Energie, Nationale Klima- und Energiearbeit, SchweizEinen Sechstel ihres Gesamtvolumens haben die Gletscher des Alpenraumes innert vierzehn Jahren verloren. Diese dramatische Erkenntnis haben Forscher der Universität Erlangen-Nürnberg im Juni 2020 im Fachmagazin «Nature Communications» veröffentlicht. Erstmals konnten die Forscher dabei den gesamten Alpenraum untersuchen und nicht nur einzelne Gletscher oder Regionen. Dafür nutzten sie Daten von Radarsatelliten, um dreidimensionale Modelle der Erdoberfläche zu erstellen. Zusammen mit optischen Satellitenaufnahmen konnten sie so die Fläche und Höhe der Gletscher messen und das Gletschervolumen als Ganzes betrachten.
Insgesamt haben die Gletscher der Alpen zwischen 2000 und 2014 22 Kubikkilometer Eis verloren. Das entspricht einer Eisdecke von mehr als einem halben Meter auf der gesamten Fläche der Schweiz. Die Studie stellt aber auch fest, dass es regionale Unterschiede beim Eisverlust gibt. Diese sind besonders für die Schweiz alarmierend: Den grössten Eisverlust stellten die Forscher in den Schweizer Alpen fest. Wenn der Klimawandel so voranschreitet wie heute, dann werden in 100 Jahren nur noch winzig kleine Reste von Gletschern in der Schweiz übrig bleiben, sagen Wissenschaftler. Was das Schmelzen der Gletscher für die Schweiz bedeutet, haben uns Bergführer Walter Josi und Glaziologe Daniel Farinotti auf einer Wanderung durch die Schweizer Eiswelt erklärt.
Auf dem Hohlaubgletscher
Bergführer Walter Josi und Glaziologe Daniel Farinotti erzählen auf dem Hohlaubgletscher von der Schönheit der Gletscher und den Auswirkungen der Gletscherschmelze
Jedem sein eigener Pool gefüllt mit Schmelzwasser
In den letzten rund 40 Jahren sind die Gletscherflächen um mehr als ein Drittel geschrumpft.
Eine neue Statistik bestätigt: Die Schweizer Gletscher haben im Jahr 2022 rund 3000 Millionen Kubikmeter Eis verloren, das sind mehr als 6 Prozent des verbleibenden Volumens. Das ist mit 2003 und 2011 der stärkste Rückgang in der 100-jährigen Messreihe. Würde man das Schmelzwasser der Schweizer Gletscher von 2017 an alle Haushalte im Land verteilen, könnte jeder damit ein 25-Meter-Schwimmbecken füllen.
Auch nach den Extremjahren 2022 und 2023 verschärft sich die Situation der Schweizer Gletscher: Obwohl es im Winter 2023/24 aussergewöhnlich viel Schnee gab, führten die stellenweise rekordhohen Temperaturen im Juli und August zusammen mit Saharastaub zu einem weiteren Rückgang des Schweizer Gletschervolumens um 2,5 Prozent – wie die Schweizerische Kommission für Kryosphärenbeobachtung der Akademie der Naturwissenschaften Schweiz berichtet. Der Saharastaub beschleunigte die Schmelze, was im August gar zum grössten Eisverlust seit Beginn der Messungen führte. Insgesamt verzeichneten die Gletscher auch im Jahr 2024 einen erheblichen Rückgang, wie die Daten des Schweizer Gletschermessnetzes (GLAMOS) belegen.
Nur schon von anfangs 70er Jahre bis 2003 ist die Gletscherfläche um einen Drittel geschrumpft. Den Negativ-Rekord hält der Morteratsch-Gletscher: Seine Zunge hat sich 2003 in einem einzigen Sommer um 76 Meter zurückgezogen. Gut sichtbar ist der Gletscher-Rückgang bei Hüttenzustiegen. Das bekannteste Beispiel ist die Konkordiahütte, die einst bloss 50 Meter über dem Aletschgletscher erbaut wurde. Inzwischen geht es ab dem Eis über eine Treppe 150 Meter hinauf auf den Felsen. Vor einem Jahr wurde die Treppe letztmals verlängert. Der Weg zur Monte-Rosa-Hütte ist ebenfalls mühsamer geworden. «Das war früher eine fast schon bequeme Wanderung, jetzt muss man über Felsblöcke kraxeln. Auch deshalb hat sich die Zahl der Übernachtungen dort mehr als halbiert», erzählt Walter Josi.
Die Rudi-Carrell-Moränen
«Ich habe erlebt, wie aus Eislandschaften in wenigen Jahren Steinwüsten geworden sind.»
Vor 20’000 Jahren war die Schweiz fast vollständig vergletschert – bei einer globalen Durchschnittstemperatur, die gerade mal fünf Grad unter der heutigen lag. Noch vor 40 Jahren sind die Alpengletscher wieder vorgestossen. Walter Josi erinnert sich: «In den frühen 70er Jahren musste man Eintritt bezahlen, um über eine Treppe direkt zum Oberen Grindelwaldgletscher zu gelangen. Später wars dann gratis, weil der wachsende Gletscher die Treppe weggedrückt hatte.» Bei einigen Gletschern zeugen Moränen von dieser kurzen kühleren Phase. Josi nennt sie Rudi-Carrell-Moränen: «Carrell sang damals den Schlager ‹Wann wird’s mal wieder richtig Sommer?›.»
In wärmeren Phasen hingegen waren die Gletscher auch schon deutlich kleiner als heute. Daniel Farinotti: «Letztes Jahr hat der Findelgletscher (VS) einen Baumstrunk freigegeben. Das zeigt, wie hoch der Wald in wärmeren Phasen einst hinaufreichte.» Auch zahlreiche Sagen aus den Alpen berichten von vorstossenden und schmelzenden Gletschern.
Die Alpen verlieren ihr Gesicht
Schmelzende Gletscher in der Schweiz sind das deutlichste Zeichen für den Klimawandel. Ihr Sterben schmerzt dabei nicht nur Herz und Auge. Auch ein Mythos geht damit zugrunde, das Gesicht der Alpen wird nie mehr dasselbe sein wie heute. Zudem kommen echte Herausforderungen auf uns zu. Daniel Farinotti nennt drei Bereiche: Tourismus, Naturgefahren und Wassernutzung, insbesondere für Stromproduktion und Landwirtschaft.
«Touristiker müssen ihre Infrastruktur anpassen, wenn das Eis weicht.» Auf dem Jungfraujoch war ein neuer Stollen nötig, damit die Gäste aufs Eis kommen. Teile des Gurschengletschers ob Andermatt werden schon seit vielen Jahren im Sommer abgedeckt, um die Verbindung von Seilbahnstation und Skipiste zu retten. Farinotti: «Lokal sind solche Massnahmen sehr wirksam, aber einen Gletscher kann man damit nicht retten.»
Für Wasserkraft und Landwirtschaft bringt der Klimawandel zunächst sogar mehr Wasser, weil Eis schmilzt. Danach gibt es weniger Wasser und schlechter verteilt: Vor allem in trockenen Sommern wird Gletscherwasser fehlen. In den Alpen liegt dieser Wendepunkt mit maximalem Wasserabfluss laut einer neuen ETH-Studie schon hinter uns. Das Wallis dürfte das zuerst zu spüren bekommen, denn das Haupttal ist niederschlagsarm und der Anteil Gletscherwasser in der Rhone mit rund 15 Prozent besonders hoch.
In 30 Sekunden 88 Arbeiter getötet
An Trockenheit mag man nicht denken am Fuss des Hohlaub- und Allalingletschers. Mächtige Eistürme leuchten dezent türkisblau, und im Talboden ruht der Mattmark-Stausee. Hier ist der Gletscher immer wieder abgebrochen. Fatal war der Abbruch von 1965, als die Mattmark-Staumauer im Bau war. «Direkt unter dem Gletscherabbruch waren die Unterkünfte der Bauarbeiter platziert – es ist schwer vorstellbar, dass die Gefahr niemandem bewusst war», sagt Walter Josi. Zwei Millionen Kubikmeter Eis donnerten ins Tal. 30 Sekunden dauerte der Spuk: 88 Arbeiter waren tot. Die Verantwortlichen wurden später freigesprochen. Im Jahr 2000 lösten sich erneut rund eine Million Kubikmeter Eis vom Allalingletscher, doch der Gletscher war überwacht, und niemand kam zu Schaden.
Die Gletscherschmelze birgt Naturgefahren
«Gletscher können ein Gelände stabilisieren, doch beim Abschmelzen geht diese Wirkung verloren.»
Wo sich Gletscher zurückziehen, können sich hinter Toteis- Riegeln Gletscherseen bilden. Brechen sie aus, geht eine mit Geröll gespickte Flutwelle ins Tal. Für einen kontrollierten Abfluss wurde etwa am Unteren Grindelwaldgletscher für 15 Millionen Franken ein Entlastungsstollen gebohrt. Beim Bergsturz in Bondo im Jahr 2017 war der Gletscher zumindest ein Glied in der Unglückskette.
Kalt- und Warmzeiten haben sich in der Erdgeschichte abgewechselt. Aber nie zuvor ging dieser Wandel so rasch vonstatten wie heute. Und auch die Ursache ist neu: «Die rasant steigende CO2-Konzentration in der Atmosphäre übersteuert natürliche Zyklen», sagt Farinotti. Im Klartext: Kohle, Benzin, Kerosin, Erdgas und Heizöl lassen die Gletscher schwinden.
Klimaschutz ist dringend nötig
«Steigende Meeresspiegel, Wirbelstürme und andere Folgen des Klimawandels bringen grossen Schaden und viel Leid. Im Vergleich dazu ist unsere Gletscherschmelze ein Problem hinter dem Komma.»
In Paris versprachen alle Staaten der Erde, die Klimaerwärmung wirksam zu bekämpfen. Das ist überlebenswichtig für viele Menschen und Tierarten. Doch die Umsetzung passiert nur zögerlich, auch in der Schweiz: Unser Land muss die CO2-Emissionen im Inland bis 2030 mehr als halbieren und bis in 20 Jahren ganz aus den fossilen Energien aussteigen.
Es ist deshalb besonders wichtig, dass die Politik rasch griffige Massnahmen erlässt. Die Revision des CO2-Gesetzes ist dabei ein wichtiger Schritt in Richtung klimafreundliche Zukunft. Das Emissionsreduktionsziel bringt die Schweiz ihren Zielen aus dem Pariser Klimaabkommen näher. Und es schafft den notwendigen Rahmen für wesentlich effektivere Klimaschutzmassnahmen nach 2020. Wenn die Klimaveränderung ungebremst weitergeht, droht die Schweiz bis zum Ende des Jahrhunderts praktisch eisfrei zu sein. Reisen wir express in eine Zukunft ohne Erdöl und Erdgas? Oder bleiben wir im fossilen Zeitalter stecken und hinterlassen damit unseren Kindern alpine Steinwüsten anstelle der Gletscher?
Was Sie tun können
Mittel, um den Klimawandel zu bremsen haben wir zum Glück viele. Wir müssen sie nur endlich umsetzen. Mit diesen sechs Klimatipps können Sie mit wenig Aufwand viel fürs Klima bewirken. Und unterstützen Sie unsere Arbeit mit einer Mitgliedschaft und geben Sie so unserer Stimme politisch mehr Gewicht. Gemeinsam können wir den Klimawandel stoppen!
Disclaimer: Mit der Aktualisierung vom 14. Juli 2020 wurde diese Seite mit den Ergebnissen der Erlangen-Nürnberg-Studie ergänzt. Eine weitere Aktualisierung wurde am 16. Mai 2023 vorgenommen mit den Erkenntnissen von GCOS Schweiz, der Akademie der Naturwissenschaften Schweiz und swisstopo.